Am 7. Juni diskutierten im Campus Hilgenfeld Dr. Geert-Hinrich Ahrens, Botschafter a.D. und mehrmaliger leitender OSZE Wahlbeobachter in Weißrussland, Rayk Einax, Doktorand für osteuropäische Geschichte an der Uni Gießen und Alena Minchenia, Absolventin an der Uni Erfurt und belarussische Staatsbürgerin über Belarus und seine Rolle in Europa. Die Moderation übernahm Sergej Lochthofen, ehemaliger Chefredakteur der TA und freier Journalist. Hier ist der ausführliche Bericht von Christoph Sebald.
Belarus – eine Nation zwischen Europa und Russland?
Gleich zu Beginn stellte Herr Ahrens klar, dass Weißrussland keinesfalls am Rande Europas stünde. Ganz im Gegenteil liege Weißrussland nahe der geographischen Mitte Europas. Belarus zeichne sich durch eine geringe Fläche, eine geringe Bevölkerung und ein relativ geringes BIP aus, jedoch sei Weißrussland, u.a. da es in Sowjetzeiten als fortschrittliches Gebiet galt, nicht arm. Von seiner politischen Rückständigkeit mal abgesehen, sei es sogar relativ modern. Seit dem 13. Jahrhundert sei Weißrussland unter anderem unter litauischer, polnischer und schließlich russischer Herrschaft gestanden. Weißrussische und Litauische Städte wiesen aufgrund der gemeinsamen Geschichte, wie Herr Einax ergänzte, ähnliche gesellschaftliche Strukturen auf. Auch betonte er die geographische Nähe zwischen Minsk und Litauen sowie mentale Parallelen. Doch gerade die Russen hätten konträr dazu eine starke Russifizierung vorangetrieben. Mit dem Zusammenbruch der SU 1990 folgte 1991 die Unabhängigkeit, was Herr Ahrens als „Windfall“ (glücklichen Zufall, mit dem man nicht gerechnet hatte) bezeichnete. Im historischen Kontext sei Belarus deutlich „europäischer“ als z.B. Russland zu begreifen, auch weil es nicht wie Russland unter der Herrschaft der Tartaren gestanden hätte. Dazu komme, dass Weißrussland sauberer und zivilisierter sei und nicht unter einer gescheiterten Liberalisierung zu leiden habe. Zwar sei der Nationalbildungsprozess noch nicht abgeschlossen, das Nationalbewusstsein noch diffus, doch sei eine Russische Reintegration unter diesen Gesichtspunkten unwahrscheinlich, denn trotz Russifizierung hätten sich eigene Kultur und Sprache erhalten.
Belarus – die letzte Diktatur Europas?
Sowohl Herr Ahrens, als auch Herr Einax sprachen sich gegen diese Generalisierung aus. Sei bereits eine Diktatur, dass jemand ‚diktiert‘ so könne man von Weißrussland als Diktatur sprechen, doch wenn eine Diktatur als ‚gegen das eigene Volk diktieren‘ verstanden würde, sei die Frage heikler. Verglichen mit anderen Diktaturen sei Belarus gemäßigt, auch wenn das politische System ohne Frage nicht den Demokratie- und Menschenrechtsstandards von OSZE und EU entspreche. Viele Menschen fühlten sich nicht, als würden sie in einer Diktatur leben. Auch impliziere der Begriff Diktatur die Integrität aller andern EU Staaten, was nicht immer der Fall sei. Beide betonten, dass universale Werte trotz allem für alle Europäer gelten sollten.
Alena meinte, dass die meisten Weißrussen von ‚Autoritarismus‘ sprächen, es vielen jedoch relativ gut gehe, da sie nicht direkt von Repressionen betroffen seien. Im Prinzip seine viele gegen das System, verhielten sich aber passiv und nur der kleine aktiv oppositionelle Teil leide unter der Gewalt Lukaschenkos. So drohe z.B. der Verlust von Arbeits- oder Studienplatz, wenn man auf oppositionellen Demonstrationen identifiziert werde. Auch herrsche am Arbeitsplatz ein rigide autoritäres Prinzip. Wer zu spät komme oder unerlaubt vom Arbeitsplatz fernbleibe, dem drohe der Verlust der Arbeitsstelle. Dies werde sogar durch Polizeirazzien in z.B. Geschäften oder anderen öffentlichen Einrichtungen, überwacht und durchgesetzt.
Belarus, die EU und die Präsidentschaftswahl von 2008
Herr Ahrens wies auf die scheinbar positiven Entwicklungen hin, welche vor dem Wahlabend selbst, der im Eklat geendet habe, Anlass zur Hoffnung gegeben hätten. So hätten alle 10 Kandidaten das Recht gehabt, sich zweimal 30 Minuten unzensiert über die Staatsmedien zu äußern. Hier hätte sich die Opposition in Form wüster Drohungen aber unprofessionell verhalten und eventuell eine harsche Reaktion Lukaschenkos provoziert. Allerdings würden gerade Parteineugründungen immer wieder abgelehnt oder behindert. So sei z.B. ein Büro zur Gründung einer Partei nötig, doch seien sämtliche Büros und die Kontrolle über deren Vergabe, in Staatshand. Zwar gebe es viele verschiedene Sendeanstalten und Nachrichtenunternehmen, doch stünden die unter staatlicher Aufsicht, wodurch eine Art Monopol erzeugt werde. Auch liege bezüglich der Menschenrechte weiterhin einiges im Argen, weshalb sich die EU von Weißrussland vorerst abgewendet habe. Herr Einax ergänzte, dass Weißrussland als Drehscheibe zwischen Russland und der EU große wirtschaftliche Bedeutung habe und deshalb gerade deutsche Unternehmen ein großes Interesse an einer Demokratisierung und stabilen Verhältnissen hätten.
Belarus – Phlegmatismus als Mentalität?
Herr Einax sprach sich dafür aus, dass die passive politische Haltung auf die Russifizierung und Urbanisierung in Sowjetzeiten zurückzuführen sei, da damals die Bildung besser geworden und die Lebensqualität gestiegen sei. Dies führe zu einer hohen Reizschwelle in der Bevölkerung, von der Lukaschenko lange profitiert habe. Dem stimmte Alena zu. Die Leute verbänden Lukaschenko mit einem ‚russischen Herren‘, weshalb er insbesondere bei älteren beliebt sei. Die EU affine Opposition finde gerade in diesen Bevölkerungsteilen weniger Sympathie. Außerdem führe das staatliche Medienmonopol zu einer medialen Omnipräsenz Lukaschenkos, welche es den Oppositionellen schwierig mache, sich vor Wahlen zu profilieren.
Der Lebensstandard, so Herr Ahrens, falle mit der Währung (starke Inflation in Weißrussland). Die Leute hätten sich bereits mit Devisen eingedeckt, doch würden diese knapp. Außerdem habe die OSZE massive Wahlfälschung festgestellt. Zwar habe sich Belarus (da es in der Bevölkerung populär ist) politisch an Russland orientiert, doch hielten die Russen Weißrussland hin, weil sie in den Besitz weißrussischer Betriebe, insbesondere der Pipelines kommen wollten. Lukaschenko sei nun in der Zwickmühle, da seine Position geschwächt würde, wendete er sich der EU zu, er sich auf der anderen Seite aber in die Abhängigkeit Russlands begeben müsste.
Belarus und der große Bruder oder das Erbe der Geschichte
Erst kürzlich sei, so Alena, ein Abkommen mit Russland ausgehandelt worden, welches Belarus einen Überbrückungskredit sowie einen ‚Vorzugspreis‘ bei den Gaslieferungen zusichere. Herr Einax bezeichnete das jedoch nur als ‚Atempause‘ und verwies auf die bereits angesprochene wirtschaftlich-politische Lage Weißrusslands, sich entweder Russland unterordnen zu müssen, oder sich EU Investitionen durch Reformen zu öffnen, was allerdings einen Machtverlust Lukaschenkos zur Folge hätte. Auch wurde die Causa Tschernobyl angesprochen, da Weißrussland mit Hilfe Russlands ein Atomkraftwerk vom Typ des Tschernobyl-Reaktors zu bauen gedenke, um energiepolitische Unabhängigkeit zu erlangen. Tschernobyl sei zwar in den Köpfen der Leute, so Alena, noch präsent, doch versuche die Regierung dies immer mehr zu verdrängen und z.B. die entvölkerten und verseuchten Landstriche wieder zu besiedeln. Auch wurden bestimmte Zahlungen für die Geschädigten eingestellt. In der Presse würden die Themen zwar diskutiert, aber werde diese durch das staatliche Monopol lediglich instrumentalisiert, um ‚einhellige Zustimmung‘ in der Bevölkerung zu suggerieren.
Belarus – und was ist mit der Jugend?
Alina erzählte, dass viele jugendliche im Ausland Arbeit suchten, die meisten von ihnen in Russland, da man dort im Gegensatz zur EU visafrei einreisen könne. Nur wenige hätten die Chance ins westliche Ausland zu gehen. Herr Einax bezeichnete das Bildungssystem als relativ gut. So könne jeder Bürger kostenlos studieren, wenn er sich im Anschluss zu einem dreijährigen Dienst verpflichte. Im Rahmen dieser Programme würden jugendliche jedoch oft in strukturschwache Gebiete gebracht (wobei sie in diesem Fall allerdings mit einem Gehaltsbonus rechnen könnten). Herr Ahrens betonte, dass gerade dort die Vernetzung relativ gering sei, so hätten von 10 Mio. Einwohnern z.B. gerade einmal 700.000 Internetzugang. Dazu komme eine hohe Internetkriminalität und systematische Überwachung (hacken oppositioneller Webseiten, etc.).
Das Schulsystem sei weitgehend autoritär geprägt und diene der Reproduktion des Systems. Es werde viel auswendig gelernt. Eigenständiges Denken werde nicht verlangt, weshalb junge WeißrussInnen für westliche Arbeitgeber oft unattraktiv seien. Lediglich in Schulen mit westlichen Trägerschaften sei eine gewisse Offenheit zu beobachten. Hier werde eine Art ‚Elite‘ des Landes herangebildet. Alena erzähte, dass sich viele gerade ein Studium in Europa nicht leisten könnten. So bräuchte man z.B. ein Kapital von 7000 € auf einem EU Konto, um in Deutschland studieren zu dürfen, was in Weißrussland sehr viel Geld sei. Deshalb gingen die meisten Jugendlichen nach Russland, wo man leichter gutes Geld verdienen könne.
Belarus und die Zukunft
Die DiskutantInnen waren sich einig, dass kein Szenario – sei es eine Anlehnung an Russland, an die EU oder eine Staatsimplosion durch Revolution – ausgeschlossen werden könne. Jedoch werde in naher Zukunft irgendetwas geschehen müssen, denn die Inflation und die politische Isolation destabilisierten das derzeitige System enorm. Doch auch wenn sich Belarus für den europäischen Weg entscheide, sei mittelfristig nicht mit einer radikalen ‚Verwestlichung‘ zu rechnen. Eventuell könne man jedoch auf ein ‚gewisses Tauwetter‘ hoffen.
Bei Wodka und weißrussischen Häppchen klang die Veranstaltung allmählich aus. Wir bedanken uns bei allen Diskutanten, Gästen und organisatorisch Verwickelten.